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Trügerische Sicherheit: Der Welpenschutz

Wenn bei Hundebegegnungen Jung und Alt aufeinandertreffen, fällt früher oder später ein Satz, der so manchem Hundetrainer Sorgen bereitet: „Lassen Sie die nur machen, Ihrer hat doch Welpenschutz!“ Unantastbar soll er sein, der kleine Welpe.

Wer aufmerksam beobachtet, fragt sich allerdings schon recht schnell, warum der angeblich Unantastbare der Letzte zu sein scheint, der von seiner Unantastbarkeit weiß. Welpen machen nur äußerst selten einen entspannten oder glücklichen Eindruck, wenn sie von fremden älteren bzw. erwachsenen Artgenossen inspiziert werden. Der Grund ist einfach, denn einen „Welpenschutz“ gibt es gar nicht.

Familie ist anders

Allenfalls gibt es so etwas wie Welpenschutz in der eigenen Familie. Es wäre biologisch einfach nicht sonderlich sinnvoll, nach dem ganzen Produktions-Aufwand dem Nachwuchs Fieses anzutun, damit er sich existenziell verdünnisiere. Für Außenstehende kann das hingegen durchaus Sinn machen. Denn dann hat die eigene Brut weniger Konkurrenz. Diese im Tierreich recht weit verbreitete Ansicht sollte man auch in Sachen Hund im Hinterkopf haben. Genauso wie die Tatsache, dass manche zwei- oder vierbeinigen Zeitgenossen Kinder schlicht und ergreifend nicht mögen. Menschen ziehen bisweilen sogar vors höchste Gericht, um Kindergärten in Gewerbegebiete verbannen zu lassen. Und unter Vierbeinern gilt, dass ein drei Käse hoher Purzel durchaus auch mal ins Beuteschema eines „Großen“ fallen kann.

Eine Frage des Anstands?

Warum sich erwachsene Hunde dennoch erstaunlich selten an Welpen vergreifen, ist eine interessante Frage, die vielleicht auch beim Hund etwas mit Anstand, mit Werten und mit Moral zu tun hat. Die Fähigkeit des Hundes zu moralischem Handeln mag nicht dieselbe sein wie die des Menschen. Wenn Moral aber speziesspezifisch ist, könnten Hunde auf Hundeart zwischen „richtig“ und „falsch“ unterscheiden. Und damit auch fähig sein, für sich zu entscheiden, wann es „richtig“ ist, einen Welpen in Ruhe zu lassen. Selbst dann, wenn er nervt, wegläuft oder sogar knurrt und schnappt. Wichtig ist die Berücksichtigung des „für sich Entscheidens“. Denn das, was aus der Sicht des Einzelnen moralisch ist, lässt sich niemandem vorschreiben, weder einem Hund noch einem Menschen. Schon gar nicht speziesübergreifend. Moral ist sehr subjektiv, und was für den einen unmoralisch ist, kann für den anderen überaus moralisch sein.

Gelernt wird, was gelernt wird

Doch kommen wir zum zweiten Pferdefuß der Mär vom „Welpenschutz“. Ganz gleich wie rücksichtsvoll sich ein älterer bzw. erwachsener Hund gegenüber einem Welpen verhalten mag, was der Kleine bei Hundebegegnungen jeder Art erfährt, lehrt ihn auch etwas. Der Welpe lernt Verhaltensstrategien, insbesondere solche, die sich auf den Umgang mit Unangenehmem oder sogar Ängstigendem beziehen. Dazu wählt er aus vier verschiedenen Handlungsalternativen, die in der Ethologie als die 4Fs bekannt sind: Flight (Flucht), Fight (Kampf), Freeze (Erstarren) und Flirt (z.B. Übersprungshandlung, gespieltes Spiel, Ablenkungsmanöver). Das Verhalten, das erfolgreich in dem Sinne ist, dass es Bedürfnisse wie Sicherheit, Entspannung oder auch Unterstützung erfüllt, also das bewirkt, was der Welpe individuell braucht und durch sein Verhalten zu erreichen sucht, wird der Biologie des Lernens entsprechend häufiger auftreten. Wer seinen Welpen der Situation überlässt, kann nicht beeinflussen, welches Verhalten das ist.

Ein Beispiel

Beim Herannahen eines anderen Hundes versteckt sich Klein-Bello hinter den Beinen seines Besitzers. Er signalisiert damit einerseits seine Unsicherheit, andererseits aber auch das, was er in der Situation braucht: Distanz zwischen sich und dem fremden Hund. Es gibt Hunde, die sehr sensibel auf die Unsicherheit anderer Hunde reagieren und das dahinterstehende Bedürfnis nach Distanz und Sicherheit achten. Andere Hunde tun das nicht (sind deswegen aber weder „gemein“ noch „böse“ oder „unerzogen“!). Was im Einzelfall passieren wird, weiß man im Voraus nie. Lassen wir in unserem Beispiel den Besitzer einen Schritt zur Seite gehen und den fremden Hund an Klein-Bello herankommen. Gelernt wird dann: Flucht bringt nichts. Klein-Bello verlegt sich nun vielleicht einem Impuls folgend aufs Erstarren. Wieder kann es sein, dass der „große“ Hund Rücksicht übt und abdreht. Gelernt würde: Erstarren ist eine gute Idee, um Distanz zu erreichen. Dreht der „Große“ nicht ab, wird gelernt: Erstarren bringt auch nichts. Probiert Bello als nächstes den Flirt aus, könnte er anfangen, wild zu hopsen und zu springen, herumzurasen und zu „spielen“, wobei er aber nur so tut als ob, denn mit Angst oder Furcht im Bauch ist echtes Spiel unmöglich. Bringt das überdrehte Gehampel den fremden Artgenossen dazu, genervt Leine zu ziehen, wird „überdrehtes Gehampel“ als gute Idee gespeichert. Verführt es den Artgenossen zum Verfolgen, zu „grobem Gejage“ und ähnlichem (kein Hund ist perfekt!), wird auch der Flirt als nicht erfolgreich ad Acta gelegt. Bleibt übrig: Fight, kämpfen. Der Welpe kräuselt die Nase, knurrt und schnappt. „So eine aggressive kleine Bestie“, denken Fremdhunde- und Welpenbesitzer zugleich, schnappen sich ihre Vierbeiner und gehen auseinander. Und Klein-Bello hat gelernt: Kämpfen kommt supergut.

Aus dem Ablauf von Hundebegegnungen kann sich für Klein-Bello früher oder später ein „Patentrezept für Hundebegegnungen“ herauskristallisieren: die Strategie, die von allen am häufigsten Erfolg hatte oder die erfolgsmäßig besonders beeindruckend war. Wichtig: Erfolg ist, was das Bedürfnis erfüllte! Im schlechtesten Fall kann deshalb ganz im Vorbeigehen das Fundament für eine spätere Unverträglichkeit des Hundes mit Artgenossen gelegt werden. Wenn Klein-Bello am Ende gar verinnerlicht, dass nichts und niemand ihm je helfen wollte, kann sein Dasein sogar in erlernter Hilflosigkeit münden.

Was also tun?

Zunächst: Vergessen Sie die Mär vom Welpenschutz unter Hunden. Der einzige Schutz, den Ihr Welpe genießt, ist der, den Sie ihm gewähren. Bedenken Sie, dass „Familie“ und „Außenwelt“ zwei verschiedene Welten sind, in denen mit den Schwächsten unterschiedlich umgegangen werden kann. Kein Hund trägt ein Gen-Programm in sich, das ihn zum obligatorischen Welpenfreund macht. Hinzu kommt: Wird ein Welpe in eine frei lebende, reine Hundefamilie hineingeboren, entwickelt er sich eingebettet in Rücksichtnahme. Kein Familienmitglied lädt Fremde ein, sich den Zwerg nach Gutdünken einmal vorzunehmen. Ganz im Gegenteil.

Wichtig deshalb: Gestalten sie Hundebegegnungen für Welpen wie Junghunde und junge Erwachsene sehr behutsam, kontrolliert, rücksichtsvoll und im Bewusstsein der Biologie des Lernens. Sie können beeinflussen, was Ihr Hund lernt, wann, wie und von wem. Ermöglichen Sie Ihrem Welpen Hundebegegnungen, die für Ihren kleinen Freund ruhig und entspannt verlaufen und echtes Spielen ermöglichen. Denken Sie immer daran, dass ein Hund, insbesondere ein Welpe, genau wie ein kleines Menschenkind einen „sicheren Hafen“ braucht, jemanden, der konsequent für Personenschutz sorgt und jene Insel gestaltet, von der aus sich ein kleiner Entdecker die Außenwelt mit allem, was sich darin befindet, im eigenen Tempo erschließen kann. Wenden Sie sich frühzeitig an einen versierten Hundetrainer oder Verhaltensberater, vorzugsweise bevor Dinge schief gelaufen sind!

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Autorin

Judith Böhnke

Judith Böhnke, Diplom-Wirtschaftsjuristin und ATN-Absolventin, arbeitet als Hundetrainerin und Tier-Verhaltensberaterin. Sie ist Mitglied im VDTT und hat sich auf die Ausbildung von Therapiehunde-Teams und Gewaltfreie Kommunikation spezialisiert. Ihre Homepage: www.mensch-tier-akademie.de.

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